Montag, 13. Februar 2012

Classic Challenge: Oliver Twist von Charles Dickens (1838)

"The simple fact was, that Oliver, instead of posessing too little feeling, possessed rather too much; and was in a fair way of being reduced, for life, to a state of brutal stupidity and sullenness by the ill-usage he had received."


Die Geschichte von Oliver Twist hat hat mich echt überrascht. Nachdem ich letztes Jahr meinen ersten Roman von Charles Dickens "Große Erwartungen" gelesen hab, den ich zwar charmant und geistreich, aber auch reichlich langatmig fand, konnte ich Oliver Twist wider Erwarten kaum aus der Hand legen. Nach heutigen Maßstäben ist der Roman zwar immer noch nicht besonders temporeich, aber mit solch einer Kraft erzählt, dass ich grad nur mühsam aus dem London der Jahrhundertwende auftauche.
Zur Story:
Eine kleine Stadt in England, Mitte des 19. Jahrhunderts: Ein völlig erschöpftes, unbekanntes Mädchen bringt nach tagelangem Fußmarsch in einem Armenhaus ein Kind zur Welt. Sie stirbt, doch ihr Sohn wird leben. In Ermangelung eines Namens Oliver Twist genannt, wächst der Junge in den miserabelsten Umständen auf, die man sich vorstellen kann. Als Oliver 9 Jahre alt ist und wie alle anderen im Armenhaus kurz vorm Verhungern, wagt er es beim Essen nach einem Nachschlag zu fragen. "Please, Sir, I want some more." wird zum berühmtesten Zitat des Romans, denn Charles Dickens zeigt damit mutig soziale Missstände seiner Zeit auf. Davon hat Oliver aber leider erstmal nichts- er hat nach einem Nachschlag gefragt! Wie konnte er?!

"I want some more." Verfilmung von Roman Polanski, 2005 (Quelle)
"Mr. Limbkins, I beg your pardon, sir. Oliver Twist has asked for more!"
There was a general start. Horror was depicted on every countenance.
"For more!" said Mr. Limbkins. "Compose yourself, Bumble, and answer me distinctly. Do I understand that he asked for more, after he had eaten the supper allotted by the dietary?"
"He did, sir," replied Bumble.
"That boy will be hung," said the gentleman in the white waistcoat. "I know that boy will be hung." 

Der Arme Oliver wird also zum Staatsfeind Nummer eins erklärt und noch viel ekelhafter behandelt als sowieso schon. All seinen Mut zusammen nehmend, packt Oliver schließlich sein kleines Bündel und reißt aus nach London, wo er halbverhungert tatsächlich ankommt und auf einer Türschwelle zusammenbricht. Er wird von einem jungen Dieb, "the artful Dodger" gefunden, der Oliver mit in sein Versteck nimmt. (Anmerkung: Ich hab das Buch auf Englisch gelesen und erst grad beim googlen herausgefunden, dass der Name ernsthaft in "Artful Dodger" - Vorname Nachname - übersetzt wurde. Wirklich, Deutschland?!) Der Herrscher über dieses Versteck ist der alte Fagin, der eine Bande Kinder die Stadtbewohner beklauen lässt und entzückt wäre, Oliver in dieser Bande zu begrüßen. Oliver, der trotz aller Grausamkeit mit der er behandelt wurde, immer einen starken Sinn für Recht und Unrecht behalten hat, ist davon alles andere als begeistert und schafft es nur durch großes Glück, einige wohlmeinende Freunde und mit Hilfe der Prostituierten Nancy, schließlich zu entkommen.

Meine Meinung:
Wenn auch ein weltbekannter Klassiker und X-mal verfilmt, kannte ich die Geschichte bisher nur in der Disney Version und die sieht so aus: 


Das swingt natürlich etwas mehr als das, was Mister Dickens im Jahr 1938 abgeliefert hat und ist vor allem einige Schattierungen freundlicher. Trotzdem hätte ich das Buch noch wesentlich trauriger erwartet, als es letztendlich ist. Der erste Teil der Geschichte, Olivers Zeit im Armenhaus, wäre herzzerreißend und kaum zu ertragen, würde Charles Dickens sie nicht mit solch beißendem Sarkasmus erzählen. Statt in Tränen auszubrechen, findet sich der Leser grimmig grinsend, was aber den Effekt der Geschichte keinesfalls verdirbt, sondern verstärkt. Dickens verpackt seine Abscheu gegenüber den Gemeindevorstehern, die schamlos ihre Macht missbrauchen und dabei selbstgerecht immer fetter werden - es gibt eine ganze Menge übergewichtige Bösewichte in diesem Buch! - in meisterlicher Erzählkunst, gespickt mit Humor allerdunkelster Güte. 

Und zur Strafe müsst ihr heiraten!
Auch in diesem Buch gibt es wieder eine ganze Reihe unvergesslicher Charaktere, zu denen ich aber erst kommen werde, nachdem ich die überraschende Ankündigung mache, dass unser junger Held keiner davon ist. Oliver Twist ist nämlich genau das, was man von einem 10jährigen Jungen erwartet: Ein Kind. Abgesehen von seiner - in Anbetracht der Umstände extrem erstaunlichen - Standhaftigkeit gegen das Böse und seines offensichtlich guten Herzens hat Oliver Twist keinerlei Wiedererkennungsmerkmale und eigentlich auch nicht besonders viel zu sagen. Auch damit hatte ich nicht gerechnet, denn ich dachte eigentlich hier geht es um einen gewitzten kleinen Helden, der sich mit einer Bande Straßenkinder anfreundet aber schließlich in eine liebende Familie aufgenommen wird. (So wie bei Oliver & Co. halt...) Stattdessen liegt der Fokus der Geschichte aber auf einem Kampf des Guten gegen das Böse. Und da es hier eine klitzekleine Anzahl guter Charaktere mit einem ganzen Batillion Bösartigkeit aufnehmen muss, die in allen Ständen und Ämtern daherkommt, in der Gosse, im Adel und in der Politik, sind Olivers Aussichten auf Erfolg ziemlich niedrig. Von dem Heer an Verbrechern, Dieben und Wiederlingen im Buch hinterlassen einige besonderen Eindruck; von dem hinterlistigen Fagin, dem gerissenen Dodger, und dem jähzornigen Sikes erwartet man nichts anderes, denn sie sind Geschöpfe des Londonder Untergrunds. Doch auch vor den würdevollen Amtsträgern der Gemeinde sollte man sich in Acht nehmen. Folgende beiden Ekelpakete haben es ganz besonders in sich: Mrs. Man, die Leiterin des Kleinkinderheims bei der auch schonmal Babies aus Versehen in den Kamin rollen und Mr. Bumble, ein nicht ganz so ehrwürdiger Kirchenmann, der mit die größte Schuld an Olivers Schicksal trägt. Ihre Strafe bekommen diese beiden ganz nach Dickenscher´ Manier: sie heiraten! Ha, Geniestreich! Zwei Monate später machen sie sich dann gegenseitig das Leben zur Hölle. Auf einen Kommentar hin, dass das Gesetz annehme, seine Frau tanze nach seiner Pfeife, lässt Charles Dickens den feisten Mr. Bumble folgenden erinnerungswürdigen Ausspruch treffen:" If the law supposes that, then the law is a ass, a idiot! If that's the eye of the law, then the law is a bachelor." Auch dieses zweite Buch von Dickens bestätigt mich in der Annahme, dass der gute Mann eine leicht negativ angehauchte Auffassung von Ehe hatte.

Pity us, lady!
Oliver wäre verloren, wenn es nicht auch unter den Bösen einige Gute geben würde. Das Schicksal der Prostituierten Nancy, die ihr Leben aufs Spiel setzt um Oliver zu helfen, geht unter die Haut. Denn selbst als sie das Angebot hat, sich in Sicherheit zu bringen, bleibt sie bei ihren Unterdrückern, an die sie sich trotz allem gebunden hat. "When such as I [...] set our rotten hearts on any man, and let him fill the place that has been a blank through all our wretched lives, who can hope to cure us? Pity us, lady--pity us for having only one feeling of the woman left, and for having that turned, by a heavy judgment, from a comfort and a pride, into a new means of violence and suffering." Ungefähr um diese Stelle im Buch verliert sogar Charles Dickens seine grimmige Heiterkeit und der Erzählstil wird um einige Schattierungen dunkler, als die Unausweichlichkeit der Gosse jede Hoffnung erstickt. Am Ende gibt es dann einen -mehr oder weniger überraschenden - Turn in der Geschichte, den ich persönlich ein bisschen schade fand, aber im 19. Jahrhundert musste er wohl sein. Was nach dem Zuklappen der letzten Seite wohl am Längsten bleiben wird, ist nicht Oliver Twist oder seine Feinde und Beschützer; Es ist mein geliebtes London, von Charles Dickens so lebensnah porträtiert, dass es den Leser mitten ins 19. Jahrhundert schleudert! Einmal kurz zum Trailer der Verfilmung gelinst und es wird klar, dass Roman Polanski es gemeistert hat, genau diese Atmosphäre einzufangen.



Fazit:
Atmosphärische nichtfürKinder-Geschichte, mit unauffälligem Helden aber vielen unvergesslichen Bösewichten. Dickens zynische Abrechnung mit der Gesellschaft seiner Zeit ist absolut lesenswert.



4 Kommentare:

  1. Jetzt hast du mir glatt den Mund wässrig gemacht. Ich hab ja eine eklatante Dickens-Lücke und bis vor kurzem noch gar nichts von ihm gelesen. (vor Weihnachten gabs dann "Eine Weihnachtsgeschichte" als ungekürztes Gratis-Hörbuch)
    Vielleicht wär dieses Buch ja sogar was für das Thema "Kindheit" meiner Challenge, mal sehen.

    Es ist auf alle Fälle sehr schön, dass ich bei dir auch wieder Lust bekomme, mehr Klassiker zu lesen (also auch über die Klassiker-Challenge, für die ich ja derzeit noch so einiges lese, hinaus). Sonst findet man ja zu Klassikern wirklich sehr wenig Rezensionen auf Blogs.

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  2. Achso, was ich eigentlich noch fragen wollte: Dickens auf Englisch, wie ging es dir damit? Ist er schwer verständlich oder gut zu lesen?

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    1. Hmm, nicht so einfach die Frage. Ich glaub es kommt ein bisschen drauf an, wie gut du an englische Texte gewöhnt bist. Da ich alle Bücher auf Englisch lese und auf Englisch studiere habe ich eigentlich nie große Probleme damit und ich hab mich mittlerweile so an die Klassiker gewöhnt, dass ich schon selbst anfange, etwas Jahrhundertwende zu sprechen :p

      wenn du allerdings nicht so viel englisch liest und vor allem nicht an Klassiker gewöhnt bist, dann solltest du dir vielleicht ein bisschen Eingewöhnungszeit geben. dann ist aber oliver twist eigentlich eine gute Wahl, wegen des flotten Einstiegstons :)

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  3. eine wirklich tolle und ausführliche Rezi!
    Hab sie jetzt verlinkt! Ich werde allerdings nur Rezis im Rahmen der Challenge verlinken ;) sorry

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